Probleme einer therapeutischen Sichtweise von Wirkfaktoren im Coaching

Mithilfe von Beobachtungen und transkriptierten Coachings werden mögliche Wirkfaktoren extrahiert, um eine “Wirkung” am Ende einer “Coaching-Sitzung” oder eines abgeschlossenen Coachings vorhersagen zu können.

Die Implikationen aus der Interaktion des Coachee mit einer Vielzahl von weiteren, beeinflussenden Variablen, die nicht bekannt sind, sind bewusst.

Gemeinsam ist den Definitionen von Therapie, dass sie davon ausgehen, dass der “andere” leidet und Hilfe benötigt. Der zu therapierende Mensch zeigt ein “abweichendes” Verhalten, das ihn daran hindert, “erfolgreich” zu agieren.

Ein therapeutisches Verständnis von Coaching bildet damit Anforderungen ab, die den Coach als denjenigen sehen, der

  • hilft bei der Veränderung von abweichendem Verhalten,
  • eine sinnhafte persönliche Orientierung und Lebensphilosophie vermittelt,
  • Probleme behebt, die die psychische Gesundheit gefährden.

Dem therapeutischen Verständnis von Coaching wohnt der zentrale Gedanke inne, dass der Coach dem anderen “hilft” indem er bewusst den aktuellen Zustand seines Coachee beeinflusst. Die Art der Beeinflussung wird lediglich durch ein humanistisches Menschenbild entschärft.

Um in dieser Form helfen zu können, muss ein Coach seinen Coachee und dessen Situation auf irgendeine Weise diagnostizieren. Aus dieser Diagnose erfolgt eine Ableitung, welche Wirkfaktoren akzentuiert werden, um zu helfen und eine “Heilung” herbeizuführen. Die Frage nach welchen Gesichtspunkten die Diagnose durchgeführt wird, wird nicht gestellt. Einem ausgebildeten Therapeuten steht hier die ICD ( englisch International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems / Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme / Wikipedia) ist das wichtigste, weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben – die aktuelle, international gültige Ausgabe ist ICD-10 aus dem Jahr 2012. Der Coach darf keine Krankheiten diagnostizieren, kann sich also auch nicht an der ICD orientieren. Was nutzt er, um diesem Dilemma zu entfliehen? In der Regel wird das seine eigene Berufs- und Lebenserfahrung sein. Auf dieser Grundlage beeinflusst er seinen Coachee. Je besser er sich in den therapeutischen Wirkfaktoren auskennt und sie berücksichtigt, desto besser erreicht er eine von ihm beabsichtigte Wirkung.

Die Kenntnis von Wirkfaktoren im Coaching hilft dem Coach, den aktuellen Zustand seines Coachee so zu beeinflussen, dass der Coachee einer, durch den Coach diagnostizieren, Abweichung “erfolgreich” begegnet. Er arrangiert unterschiedliche Wirkfaktoren und bildet sie in einem Ablauf ab, damit der Coachee sein Verhalten in der vom Coach beabsichtigten Form verändert.

Der Coachee trägt dabei grundsätzlich selbst die Verantwortung für die Auswahl der Lösung und das Ergebnis. Eine irgendwie geartete Form der “Hilfe zur Selbsthilfe”, wie sie im Coaching Markt propagiert wird, ist so nur schwer erkennen.

Die Neue Hamburger Schule hat aus der aktuellen fachlichen Diskussion folgende Gemeinsamkeiten als Wirkfaktoren extrahiert:

  1. Die Beziehung zwischen Coach und Coachee
  2. Die Aktivierung von Ressourcen
  3. Die Reflexion eigener Handlungen
  4. Die Reflexion der jeweiligen Situation
  5. Das Ziel bzw. die Zielklärung
  6. Die Unterstützung bei der Umsetzung
  7. Die Ergebnisorientierung

Die therapeutischen Wirkfaktoren sind richtig beschrieben. Problematisch ist lediglich, dass der Coach aus seinem “Gusto” heraus die “zu wirkenden” Faktoren auswählt und bewusst ein Vorgehen gestaltet, um seinen Coachee zu beeinflussen.

De Vollständigkeit halber ist an dieser Stelle anzumerken, dass eine modernere psychotherapeutische Auslegung den Wirkfaktor “Beziehung” etwas anders sieht: Der Therapeut ist sich der beeinflussenden Wirkung der Beziehung sehr wohl bewusst und achtet daher darauf, seinen Patienten bestmöglich durch die Beziehung nicht zu beeinflussen, um die Selbststeuerung zu fördern.

Die Neue Hamburger Schule ist nicht berufen, ihr Coachingverständnis als das “einzig Wahre” anzusehen. Eine bisweilen polarisierende Wortwahl dient der Bewusstmachung von Unterschieden im Verständnis und zur Anregung einer intensiven fachlichen Diskussion.

Die o.a. Wirkfaktoren sind ein sehr guter Bewertungsmaßstab, um Coachingverständnisse, die auf einer therapieähnlichen “Diagnose” beruhen, nachvollziehbar zu bewerten. In der Anwendung dieses Maßstabs ist es auffällig, dass sämtliche Vorgehensweisen/Tools/Methoden bspw. aus dem Bereich der Neuro-Linguistischen-Programmierung NLP schlichtweg “durchfallen”.

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Das Coachingverständnis der Neuen Hamburger Schule im Spiegel therapeutischer Wirkfaktoren